"Schnuppern im Osten" habe ich als Überschrift gewählt, ich hätte auch schreiben können "viereinhalb Tage Leipzig". Dazu folgender Bericht:
Zwei Tage nach der Europawahl fuhr ich mit mulmigem Gefühl Richtung Osten. Bei der Überquerung der ehemaligen „Zonengrenze“ oder dem „Schutzwall gegen den Kapitalismus und die Dekadenz“ – je nachdem, von welcher Seite man diese Grenze betrachtete – verstärkte sich dieses Gefühl. Ich fuhr ins Land der Gläubigen der rechten Heilsverkünder. Wobei das ja nun nicht ganz stimmt. Immer mehr dieser Leute treffe ich in meiner direkten Umgebung.
Nun stehe ich hier schon den vierten Tag auf einem Stellplatz knapp 5 km außerhalb des Zentrums von Leipzig. Es gibt Betonplatten für die Camper, dazwischen sind winzige Rasenstücke und die Stellplätze sind sehr dicht aneinander. Zu meiner Linken in Fahrtrichtung parkt einer dieser Luxusliner, hinter mir stand ein noch größeres Luxusfahrzeug, etwa so groß wie ein Reisebus. Heute Morgen warf der seinen lauten Dieselmotor an, ich fiel fast aus dem Bett, er fuhr dann los und ich habe hinter meiner Hütte wieder etwas Luft und Grün.
Nach meiner Ankunft war ich ziemlich geschafft, hatte ich doch über eine Stunde Verlust durch Stau gehabt. Ankunft, das geht so: Wasser einfüllen, super, Schlauch passt auf Hahn, Geld für Strom einwerfen, mein Portemonnaie mit Kleingeld hab‘ ich natürlich zu Hause gelassen, aber ich habe erst einmal genug Münzen. Es funktioniert, was nicht immer der Fall ist. Ich kann Kaffee mit Strom kochen. Hole den Stuhl raus und trinke meinen Kaffee. Meine Nachbarn sitzen ziemlich nah neben mir, wie gesagt, es ist eng hier. Sie scheinen kurz vor mir angekommen zu sein, haben die erste Flasche Rosé bald leer. Zum Glück hatte er noch die Kraft, mir beim Abnehmen meines Fahrrads vom Fahrradträger zu helfen.
Ich versuche mit ihnen ins Gespräch zu kommen, lasse das aber schnell sein, sie lösen gemeinsam im beschwipsten Zustand Kreuzworträtsel.
Nach dem Kaffee und kurzem Schließen meiner Augenlider fühle ich mich halbwegs aktiviert. Der Nachmittag geht in den frühen Abend über und mir wird klar, dass ich nur Nudeln mit Pesto an Bord habe. Daraus könnte ich mir eine einfache Mahlzeit zubereiten, jedoch so dicht neben den unfreundlichen Nachbarn habe ich keine Lust dazu, und außerdem ist der Abend lang.
Naja, eigentlich wollte ich über die Stadt Leipzig berichten, weswegen ich all die Mühen auf mich nehme.
Also bemühe ich mich, den Weg mit dem Fahrrad in die Stadt zu finden. Dieser soll sehr idyllisch am Fluss Parthe entlang bis fast in die Innenstadt verlaufen. Schilder sind Fehlanzeige, ich muss mit Google vorlieb nehmen. Der kennt leider nicht den Weg am Wasser entlang und schickt mich über holprige Straßen. Schließlich tauche ich doch noch, ohne Google, aber nach Befragung einiger Leute, in eine Parklandschaft ein und fahre so lange immer geradeaus, bis ich an eine Straße komme und eine Brücke überquere, hier wieder mit Google, und auf diese Weise zügig im Schatten der Nikolaikirche eine Pizza esse.
Auf dem Rückweg vertraue ich ganz auf Google. Ich fahre an der Straße entlang, es gibt aber bis weit aus der Innenstadt hinaus ordentliche Radwege.
Ich vergaß zu erwähnen, dass ich nach Verlassen des Stellplatzes mit dem Fahrrad den erstbesten Passanten fragte, wie man am besten mit dem Rad in die Innenstadt kommt. „Da haben sie sich aber was vorgenommen“ und „es gibt da eine Zone, da sind nur so Ausländer und da ist es so voll und ich versuche mal, ihnen zu erklären, wie sie da nicht durchmüssen.“ Dass mir das nichts ausmache, überhört er.
In der Nacht holte mich der Juckreiz wieder aus dem Schlaf und ich kam nicht zurück in selbigen. Inzwischen bin ich überzeugt, dass es sich kaum um Mückenstiche handelt. Ich muss wohl zum Hautarzt, wenn das nicht aufhört. Das geht nun schon über eine Woche so, und ich hatte doch gehofft, in Leipzig hätte ich endlich Ruhe.
Am nächsten Morgen fuhr ich wieder mit dem Rad in die Stadt, fand zügig die Touristeninformation und kaufte mir ein Ticket für einen Stadtrundgang. Vorher hatte ich noch Zeit und geriet in eine kostenlose Ausstellung der Stadt Leipzig. Die DDR-Zeit war dargestellt, eine anschauliche Sammlung zeigte Bands der DDR (u.a. die Puhdys), auch Leute wie Biermann und den Panik-Udo, die jeder auf seine Weise zwischen den beiden Deutschland vermitteln wollten, es aber nicht so ganz schafften. Man wurde schnell versetzt in die Zeit eines unfreien Teils von Deutschland. Gefängnis ohne Gerichtsurteil, Folter, Bespitzelung, Lügen, und dann die friedliche Revolution genau hier an diesem Ort. Beim Hinausgehen stolperte ich dann über einen „Grabstein“, auf dem stand: „Freiheit von 1989 bis 2020“. So ein Querdenkermist war das, aber die Aussteller hatten es so angelegt, dass man den Unterschied zwischen dieser irrwitzigen Behauptung und der von denen vergessenen oder nie erlebten Realität der wirklichen Unfreiheit wohl begreifen musste.
Ich weiß, diese Typen behaupten, dass es ja auch erst angefangen hat, das Einsperren und Bespitzeln ist doch schon im vollen Gange, bald kommen auch die anderen Dinge wieder…
Ich könnte kotzen, hätte kotzen können. Überlegte es mir aber anders und ging lieber noch eine Kleinigkeit essen, bevor der Stadtrundgang losging. Der war sehr interessant, amüsant, und abgesehen von den vielen Jahreszahlen erfuhr ich einiges über die Bedeutung der Stadt Leipzig in den letzten tausend Jahren, also auch weit vor Nazizeit und Stasizeit. Leipzig war schon immer eine Stadt an der Kreuzung zwischen bedeutenden Handelswegen. Daraus entwickelte sich reger Handel, und bekanntlich war und ist Leipzig Messestadt. Zu DDR-Zeiten haben sich die Stasis während der Messen zusammengerissen, habe ich erfahren. Dieser kleine Miststaat wollte trotz allem international anerkannt werden, irgendwie waren sie doch vom Westen abhängig. Die Maske hat eine Zeitlang gehalten, außer wenn Westdeutsche Verwandte dort hatten, die wussten es besser.
Während des Stadtrundgangs wurde mir ab und zu so schwindelig, dass ich mich auf das aufrecht Stehen konzentrieren musste. Ich komme nicht so gut klar mit wenig Schlaf, das war immer schon so. Ich hielt aber durch, fuhr dann zurück, was in dem Fall leider immer leicht bergauf geht, schaffte eine halbe Stunde Schlaf und einen kleinen selbstgebastelten Imbiss, bevor ich mich ich in eine Sitzung einschalten musste. In der Nacht darauf schlief ich neun Stunden, die Müdigkeit hatte über den Juckreiz gesiegt. Hoffentlich für immer.
Tatsächlich, der Juckreiz hatte nachgelassen, ich wachte gut ausgeruht auf, verbummelte den Vormittag mit Gasflaschentausch und sonstigen Frisch- und Abwassertätigkeiten. Ich besuchte die Niederlassung Leipzig meiner Arbeitgeber und wurde nett empfangen. Ich legte noch eine Mittagspause ein, fand danach einen REWE zwecks Notbestückung bei Hunger und Durst, und dann fuhr ich wieder mit dem Rad in die Stadt. Ich schaute aber nur ein bisschen hier und da, besichtigte die Region um die Thomaskirche, um dann zügig auf ein Restaurant hereinzufallen, dass den wohlklingenden Namen „Bachstübl“ hat. Von drinnen betrachtet, fiel mir auf, dass sie sich nicht zwischen Bachstübl und Backstübl entscheiden konnten. Es gab tatsächlich beide Schreibweisen. Das merkte man indirekt auch an dem Zeug auf dem Teller. Ich hatte eine Forelle bestellt mit Salat und Kartoffeln. An der Forelle, die zwar klein war, gab es nichts auszusetzen. Jedoch waren die Kartoffeln kalt und der Salat bestand aus ungefähr einem Blatt. Sie brachten mir auf Verlangen warme Kartoffeln, immerhin.
Ich freue mich immer auf so ein Essen in einem Restaurant. Ich werde bedient, ich muss weder selbst kochen noch spülen und fühle mich als Gast. Wenn ich dann aber Fraß bekomme, macht mich das traurig.
Gestern fuhr ich mit dem Bus in die Stadt. Ich wollte nicht schon wieder in einen Regenguss geraten. Mein Plan war der Besuch eines weiteren Museums im ehemaligen Stasigebäude, eines Gemäldemuseums, zurück zum Füße hochlegen und dann wieder in die Stadt, um endlich ein gutes Essen zu bekommen.
Mit dem mir überreichten Flyer für die Bus- und Tramverbindungen kam ich nicht klar, weil nichts stimmte. Große Kreuzungen werden umgebaut, es gab überhaupt keine Taktung zwischen den beiden Verkehrsmitteln und so brauchte ich wesentlich länger als mit dem Fahrrad. Der Platzbetreiber hätte zumindest darauf hinweisen können, statt mir einfach den Flyer in die Hand zu drücken.
In der Innenstadt angekommen, traf ich eine Grüne, die gerade mit dem Fahrrad Plakate einsammelte. Es war eine nette Unterhaltung und ich erfuhr, dass in Leipzig selbst 20% die Grünen gewählt haben. Was für ein Lichtblick.
Danach ging ich in das Museum im ehemaligen Stasigebäude. Sie nennen es die „Runde Ecke“. Die Grünen-Kollegin hatte mir gesagt, dass dem Museum eine Erneuerung mit besserer Strukturierung fehle. Ich empfand das nicht so. Es unterschied sich vom städtischen Museum dadurch, dass es aufgrund der alten erhaltenen Räume tatsächlich DDR-Mief ausstrahlte. Sie zeigten Spionagekameras und dazu gehörende Spionageutensilien, Abhöranlagen für Telefonleitungen in Ost- und auch in Westdeutschland. Sie zeigten, dass sie die Pässe westdeutscher Bürger bei den Einfahrten in die Transitautobahn kopiert haben und diese als Muster für Passfälschungen benutzten, um damit Spione auszustatten. Da hätte auch meiner dabei sein können. Es waren Dokumente zu sehen, die erzählten vom Denunziantentum, dem Verrat und der eiskalten Verurteilung ohne Rechtsprechung. Es gab sehr lange die Todesstrafe für politisch Andersdenkende. Die Vollstreckungen geschahen außerhalb, das ging niemanden etwas an. Wie gesagt, der Staat trug hier eine Maske. Unter die Haut ging auch der Aufsatz eines Schülers aus dem Politikunterricht, der das Gegenteil von dem schrieb, was er hätte lernen sollen. Dass der Staat, in dem er lebte, ein Gefängnis sei und er das nicht wolle, oder so ähnlich. Daneben war die Einladung des Direktors an die Mutter, zur Schule zu kommen. Hätte der Junge diesen Aufsatz etwas früher geschrieben, wäre es für Mutter und Sohn schlecht ausgegangen, aber es war der Sommer 1989.
Fazit meiner Museumsbesuche: In dem Museum für Stadtgeschichte und vor allem im Stasimuseum war ich der damaligen DDR sehr beklemmend nah. Ich finde es gut, dass die Erinnerung wach gehalten wird. Es gibt hier, wie ich es auch in Erfurt und Weimar erlebt habe, starke kulturelle Kräfte, die wehrhaft und aufrichtig zur Demokratie stehen und für diese kämpfen. Das gilt es zu unterstützen, es braucht nur viel mehr Kräfte, die Wahrheit zu erzählen und nicht die verdrehten Behauptungen der braunen Suppe und deren Anhänger.
Ich machte eine kurze Mittagspause in der nächstbesten Kneipe und aß eine Spargelsuppe.
Danach entdeckte ich als Kontrastprogramm etwas sehr Schönes. Ich schaute mir die Gemäldesammlung an, sortiert nach Kunstepochen von um 1600 bis in die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Dabei gab es in jedem Raum Erklärungen, wie diese Bilder zu betrachten sind, sie erklärten sozusagen die reziproken Wirkungen der Zeitepochen und die Darstellung derselben. Es waren Bilder dabei, die waren einfach nur schön. Ich genoss es, Landschaftsbilder anzuschauen, und die Belehrungen der Wandtafeln, wie die Maler verschiedener Epochen unterschiedliche Stilmittel eingesetzt haben, machten die Betrachtungen noch spannender. Ich bin ja ein Fan des Impressionismus, und hier waren auch Maler ausgestellt, die mir nicht so bekannt waren. Einige standen zwischen den unterschiedlichen Epochen, zum Beispiel war sehr gut der Beginn des Impressionismus zu sehen.
Dann waren meine Füße platt und ich war froh, als ich in der Straßenbahn saß. Als die Füße und die Augen es wieder zuließen, fuhr ich nochmal in die Stadt, diesmal kannte ich mich ja schon aus mit den Öffis. Ich fand tatsächlich in der Innenstadt eine Bude, in der ich etwas gut Essbares fand, Leipziger Allerlei mit einer Soße mit Flusskrebsschwänzen und Morcheln.
Am letzten Tag hatte ich keinen besonderen Plan mehr. Die Nikolai- und die Thomaskirche hatte ich beide von innen und außen gesehen, das alte Rathaus ebenfalls, das an dem großen Marktplatz steht, ab dem ich mich sternförmig bewegt hatte und der mir als Orientierung gedient hatte. Ich hatte keine Lust mehr auf Museen, obwohl es noch ein paar Spezialsammlungen gab. So fuhr ich um die Mittagszeit in die Stadt und ließ mich treiben. Leipzig ist geprägt von riesigen Einkaufstempeln, die Höfe heißen und typisch für die Handels- und Messestadt sind, und durch die man durchgehen kann und dann von einem Viertel ins nächste gelangt. Das ist fast wie durch ein Labyrinth zu laufen, aber man kommt immer wieder an einer Stelle raus, die man dann doch schon einmal passiert hat. Ich schaute mich in Läden um. Es gab wunderschöne Sommerkleider in Läden, die zu keinen Ketten gehörten. Jedoch riss ich mich zusammen, weil ich finde, dass ich mehr davon habe als Gelegenheiten, diese anzuziehen.
Irgendwann kam ich am Neuen Rathaus raus, das ich vorher nicht gesehen hatte. In dessen Schatten trank ich nach Stunden des Herumlaufens einen Aperitif. Danach sagte ich der Innenstadt von Leipzig „Auf Wiedersehen“ und bereitete mir in meinem Camper ein kleines Abendessen.
Fazit des Besuchs: So einen Stellplatz muss man schon ertragen können, wenn man mit dem Camper eine Stadt besichtigen will, die Enge darf einem nichts ausmachen. Im Herbst ist das nicht ganz so wichtig, dann sitzt man nicht draußen. Aber jetzt, im Sommer, hätte ich gern abends vor meinem Camper draußen gesessen. Ich sparte mir das auf dem 1,5 m2 Rasenstück im Angesicht aller Nachbarn und mit Blick auf eine Mauer. Die Stadt selbst war eine sehr positive Überraschung. Die Eindrücke der Stadt und die Erlebnisse in den Museen hätte ich nicht durch eine filmische Dokumentation bekommen können. Man muss tatsächlich vor Ort sein, und die Anstrengung hat man sehr schnell wieder vergessen, das Erlebte bleibt.
Impressionen von Leipzig: Plastik eines Läufers vor dem Stadtmuseum, Blick aus einem der Höfe, die Thomaskirche (Titelbild ist übrigens die Nikolaikirche), eine Häuserfassade, das älteste Teehaus der Stadt mit Elefantenköpfen, Neues Rathaus mit Tor.